Über das Sternchen oder die Notwendigkeit weiterzudenken

Zur Glosse von Ulla Steuernagel vom 15.10.2016 – „Sternchenthema“

Natürlich erfüllt es uns Pädagog*innen mit großer Freude, dass sich eine Glosse im Schwäbischen Tagblatt eines so wichtigen Themas annimmt und so nutzen wir die Gelegenheit, das Sternchen mit einigen Anmerkungen unsererseits weiter zu beleuchten. Simone de Beauvoir ist auch uns nicht vollkommen unbekannt. Ihr viel zitierter Satz lautet im Original jedoch: „Man wird nicht als Frau geboren. Man wird zur Frau gemacht.“ Durch Hinzufügen der in diesem Kontext entscheidenden Wörtchen „nur“ und „auch“ wurde seine Bedeutung durch die Autorin* ins Gegenteil verkehrt.

Um die Dichotomie der Geschlechter in Frage zu stellen ist es nicht unbedingt nötig, sich der Auffassung Judith Butlers anzuschließen, nach der auch das biologische Geschlecht sozial konstruiert ist, denn zum selben Schluss kommen auch die Erkenntnisse der modernen Humanmedizin. Diese stellen ebenfalls klar, dass es nicht genau zwei Geschlechter gibt, da die verschiedenen Möglichkeiten der körperlichen Geschlechtsbestimmung, nämlich das Chromosomengeschlecht, das Keimdrüsengeschlecht, das morphologische Geschlecht und das Hormongeschlecht keine binären Kategorien bilden, sondern auf einem Kontinuum liegen oder komplexe Kombinationsformen beinhalten.

Dankenswerterweise liefert uns die Autorin* eine Auflistung, was ihrer Meinung nach unter Mädchen* zu verstehen ist. Dabei lässt sie jedoch außer Acht, dass geschlechtliche Vielfalt und sexuelle Orientierung zwei grundsätzlich verschiedene Dimensionen sind. Lesbische, bisexuelle oder asexuelle cis-Mädchen* können sich mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Diese Mädchen* waren schon immer Zielgruppe der klassischen Mädchenarbeit.

Ganz anders ist es für Mädchen*, die sich nicht mit ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren oder sich in den binären Geschlechtskategorien nicht wiederfinden, wie trans*, inter oder queere Mädchen*. Dass geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in vorliegender Glosse als „diverse Spielarten“ bezeichnet werden, lässt auch in einem solchen journalistischen Format den nötigen Respekt vor Menschen vermissen, die sich jenseits heteronormativer Normen verorten und sich weder ihre geschlechtliche Identität noch ihre sexuelle Orientierung aussuchen können.

Schon Kinder verleihen ihrem Geschlechtsempfinden Ausdruck. Wenn dies nicht mit den Rollenzuschreibungen der Umwelt übereinstimmt, kann es zu Konflikten und Belastungen für die Kinder und deren Familien kommen. Bereits in Kitas und Kindergärten gibt es Kinder, die sich dem anderen als ihnen bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen und dies auch durch ihr Verhalten ausdrücken.

Jugendliche, deren zugewiesenes Geschlecht nicht mit ihrem inneren Empfinden übereinstimmt, geraten in Situationen, die für sie kritisch sind. Ausgrenzungen wegen der Geschlechtsidentität oder Diskriminierung wegen des Geschlechtsausdrucks sind dann für sie alltägliche Erfahrungen, wie die aktuelle Studie des deutschen Jugendinstituts (Coming-out – und dann…?!) zeigt. Aus diesem Grund wagen es transgeschlechtliche Jugendliche oft nicht, sich zu outen. Die Folgen der Ausgrenzungs- und Diskriminierungsängste sind vielfältig und äußern sich in Bildungsabbrüchen, einem schlechteren psychischen und physischen Gesundheitszustand bis hin zu einer wesentlich höheren Suizidrate im Vergleich zu nicht transgeschlechtlichen Jugendlichen, wie verschiedene Studien zeigen.

Für Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit ist es deshalb wichtig zu wissen, dass transgeschlechtliche Lebensweisen gegenwärtig sind und eine pädagogische Haltung zu entwickeln, die Transgeschlechtlichkeit oder auch Lebensweisen, die sich keinem Geschlecht zuordnen lassen, als gleichwertige und selbstbestimmte Lebensentwürfe mitdenkt. Dass wir dies in unserer pädagogischen Arbeit umsetzen, wollen wir durch die Verwendung des Sternchens deutlich machen, welches – wie der Unterstrich – den Raum für eine Vielfalt der Geschlechter symbolisiert.

Im Sinne unseres Sternchen-Verständnisses Mädchen* und junge Frauen* weiterzudenken, jenseits von (Geschlechter)Kategorien und Zuschreibungen, das hat der Mädchentreff e.V. – auch ohne Sternchen im Logo – immer schon gemacht. Neu ist, dass wir darüber hinaus Unterstützung, Raum und Sichtbarkeit auch für Menschen anbieten, die als Mädchen „gelesen“ werden möchten oder sich keiner Geschlechterkategorie zuordnen wollen oder können. Durch Öffnung unserer Einrichtung für alle Mädchen* eröffnen wir auch cisgeschlechtlichen Mädchen den Raum, gewohnte Vorstellungen von Geschlecht in Frage zu stellen, eigene Verhaltensweisen zu reflektieren und Respekt für Lebensweisen zu entwickeln, die nicht der eigenen entsprechen. In diesem Sinne können wir auf die Frage der Autorin* „wie viele *-Mädchen“ und junge Frauen* zwischen 6 und 27 Jahren es in Tübingen gibt, antworten: mindestens 15.000.

Wer mehr zum Thema wissen möchte ist herzlich zu unserer Fortbildung zum Thema „Geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung in der Arbeit mit Jugendlichen“ am 18.11.2016 ins Frauenprojektehaus eingeladen.

Wir würden uns auch über ein Interesse des Schwäbischen Tagblatts an den Inhalten unseres Mädchen*- Informations- und Beratungszentrums freuen, welches über das Sternchen in unserem Logo hinaus geht!