Offener Brief an Oberbürgermeister Boris Palmer

Sehr geehrter Oberbürgermeister Boris Palmer,

am 25.11.18, dem „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“, gab es eine Veranstaltung im Tübinger Rathaus. Schwerpunkt des Aktionstags in diesem Jahr war es, die Aufmerksamkeit auf Diskriminierung, Ungleichbehandlung und Gewalt gegen Mädchen zu lenken. Den Interessen, Ansichten und Lebenswirklichkeiten von Mädchen sollte an diesem Tag das Rathaus gehören. Ein buntes Programm war zusammen mit vielen Beteiligten geplant worden.

Gerne würden wir, die Mitarbeiterinnen und der Vorstand des Mädchen*treff e.V., Ihnen schildern, wie wir uns gefühlt haben, als wir Ihre Rede am 25.11. gehört haben.

Dafür müssen wir zunächst etwas zum Kontext sagen. Wie kam es dazu, dass wir mit einer Gruppe von geflüchteten Mädchen und jungen Frauen im Publikum saßen?

In den Herbstferien haben wir mit 12 Mädchen einen 2tägigen Workshop durchgeführt mit dem Ziel, die  Teilnehmerinnen zu bestärken, ihnen  eine Stimme zu geben und ihre gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Gemeinsam wurden Stärken herausgearbeitet, es gab Momente der Selbstermächtigung und des Empowerments und Raum dafür Probleme, gesellschaftliche Hindernisse und Hürden zu besprechen. Das Ergebnis sind 12 starke, aussagekräftige, persönliche Collagen, auf denen die Themen der Mädchen und jungen Frauen künstlerisch umgesetzt wurden. Es geht um Teilhabe, gehört werden, „ich möchte nicht unterdrückt werden“, „ich darf entscheiden“, „meine Identität, Herkunft macht mich stark“, und ja, auch „mein Kopftuch macht mich stark“. „Ich spreche verschiedene Sprachen, das macht mich stark“. Als Hindernisse wurden genannt: Respektlosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und die Annahme, Menschen würden nach Deutschland kommen, weil man hier so gut leben kann, dabei wird vergessen, dass sie in ihren Heimatländern im Krieg sterben, wie viele Familienmitglieder der beteiligten Mädchen.

Mit diesen Mädchen und jungen Frauen gehen wir also ins Rathaus, wir ermutigen sie, dass sie dort eine Stimme haben und ihre Collagen vorstellen können, u.a. vor Leuten, die viel zu sagen haben in Tübingen, so wie z.B. Sie Herr Palmer. Wir gehen von einer Veranstaltung aus, die Mädchen und junge Frauen willkommen heißt und respektiert, unabhängig von ihrer Herkunft, unabhängig davon, ob sie Kopftuch tragen oder nicht, schließlich steht der Tag unter dem Motto „den Mädchen das Rathaus!“. Gleich zu Beginn sprechen Sie, Herr Palmer, Ihr Grußwort, begrüßen darin die Anwesenden und kommen auf die politische Bedeutung des Tages gegen Gewalt an Frauen zu sprechen. Doch dann schlagen Sie eine Richtung ein, die uns vor den Kopf stößt: es geht um die hohe Anzahl geflüchteter Männer aus vorwiegend patriarchalen Gesellschaften, die ihrer Meinung nach eine ungeahnte Dimension an Gewalt gegen Frauen mit sich bringen, die die Sicherheit im öffentlichen Raum gefährden und doppelte Polizeipräsenz erfordern. Gleich wurden Prozentzahlen mitgeliefert, wie viele Tübinger Bürgerinnen und Bürger sich seit 2015 unsicher fühlen in unserer Stadt. Und die geflüchteten Mädchen und jungen Frauen, die im Publikum sitzen und Ihnen zuhören, Herr Palmer, wie haben sie sich wohl gefühlt, an „ihrem“ Tag im Rathaus? Haben diese Zuhörerinnen sich wohl gefragt, ob ihre Brüder, Väter, Onkels und Cousins auch gemeint waren, sofern sie nicht im Krieg umgekommen sind? Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihnen nicht, denn Sie haben direkt zum nächsten Thema übergeleitet und sich als einer der Erstunterzeichner der Anti-Kopftuch-Kampagne von Terre des Femmes „den Kopf freihaben“, die im Juni 2018 gestartet wurde, zu erkennen gegeben. Einige unserer Besucherinnen, auch Mädchen die sich am Projekt beteiligt haben und mit uns im Rathaus waren, tragen Kopftuch. Sie hören, was sie sagen und sprechen sich nachher entschieden dafür aus, selbst entscheiden zu können was sie auf dem Kopf tragen. Das Tragen des Kopftuches, sagen manche, ist für sie ein Zeichen von Stärke, weil es Teil ihrer Religion ist.
Für uns als Mitarbeiter*innen im Mädchen*Informations- und Beratungszentrum (MIB) ist das Kopftuch zuerst Zeichen einer Religionszugehörigkeit. Personen dürfen entscheiden, ob und wann sie diese Zugehörigkeit nach außen zeigen. Aus der Perspektive vieler christlicher Kirchen gibt es die Kindstaufe, Eltern entscheiden über Zugehörigkeiten, Religionsmündigkeit ist mit 14 Jahren vorgesehen.
Wir sind davon überzeugt, dass die Frage des Tragens eines Kopftuches in Bildungseinrichtungen und öffentlichen Räumen in Deutschland zu keiner Zeit, in keinem Alter durch Erlaubnis und Verbot regelbar ist bzw. geregelt werden sollte. Wir kritisieren – wie Holla e.V. Köln – in ihrem offen Brief an Terre des Femmes, dass die Kampagne nicht „grundsätzlichen Schutz von Mädchen*/ Jugendlichen vor Einschränkungen durch religiöse Dogmen fordert, sondern sich nur auf das Kopftuch bei Musliminnen* beschränkt!….Es geht (uns) nicht um das Vertreten einer Pro-Kopftuch-Position, … sondern …(um)…das Sprechen „über andere“, … Der Diskurs um das Kopftuch bei Musliminnen* kann zielführend überhaupt nur in sicheren Räumen und von muslimischen Frauen* und Mädchen* selbst geführt werden.“ (http://holla-ev.de/offener-brief-des-ifmgz-holla-e-v-zur-terre-des-femmes-kampagne-den-kopf-frei-haben/)

Erlauben Sie uns die Frage: mit wie vielen Mädchen oder Frauen, die Kopftuch tragen, haben Sie bisher gesprochen? Wie genau haben Sie sich die Collagen der Ausstellung angeschaut, in denen die Mädchen darstellen, was sie stärkt und was sie schwächt? Wir denken, das hätte sich gelohnt. Wenn Mädchen am 25.11. das Rathaus gehören soll, dann bitte allen. Wer will, dass Mädchen teilhaben, mitgestalten, stark und sichtbar sind, muss mit ihnen, nicht von ihnen oder über sie sprechen.

Team und Vorstand des Mädchen*treff e.V.

Sabine Engel, Lena Hezel, Uli Hirn, Luzie Kollinger, Elisa Hezel

Borghild Strähle, Isabel Mentor, Christiane Kohrs

Verteiler: Boris Palmer, Stabstelle Gleichstellung und Integration, Kooperationspartner*innen 25.11., Integrationsrat Tübingen, Homepage und Facebookseite Mädchen*treff e.V. Tübingen